Meerdimensional

Fähren auf der Ostsee: Von schwimmenden Freizeitparks bis zu griechischen Turbos
von CHRISTOPH AMMANN

Die Silhouetten Stockholms verschwinden allmählich im Dunst. Es ist halb sechs Uhr abends, und die Sonne steht noch immer hoch am Himmel. Wie auf
Schienen gleitet das riesige Schiff durch die Schären. Die Männer auf der Brücke leisten Massarbeit. Sie zirkeln den Dampfer vorbei an tückischen, knapp aus dem Wasser ragenden Felsen und Inseln mit roten und gelben Sommerhäusern.
Menschen sind keine zu sehen. Nur ein paar Möwen flüchten vor dem blau-weissen Ungetüm, das gar nicht in diese Welt passt, in der alles niedlich und märchenhaft anmutet und an Astrid Lindgren und Pippi Langstrumpf erinnert.

Die Fähre ist das beste Verkehrsmittel, um von einem Ostsee-Land ins andere zu gelangen - von Schweden nach Finnland, von Finnland nach Deutschland, von Polen nach Dänemark. 2100 Passagiere reisen heute mit der «Silja Serenade» von Stockholm nach Helsinki. Aber nur zwei Dutzend saugen an der Reeling auf dem Promenadendeck die Bilder dieser traumhaften nordischen Landschaft in sich auf. Skandinavier wollen auf der Fähre kein Sightseeing, sondern Vergnügen.

Die Bandbreite an Amuesement ist gross: Auf dem Promenadendeck trägt neben spielenden Kleinkindern und bechernden Opas ein Rudel Halbwüchsiger eine Partie Unihockey aus. Die Passagiere liegen in den Whirlpools der «Sunflower Oasis», einer tropischen Badelandschaft hinter Glas, hängen in der Stardust Bar unterm Schiffskamin herum oder lassen die Spielautomaten im Entrée des Casinos jaulen. Und im Supermarkt auf Deck 6 haben sich gleich nach Ablegen der «Serenade» lange Schlangen an den Kassen gebildet.

«Für uns Finnen gehört ein Ausflug mit der Fähre nach Stockholm zum fixen Jahresprogramm», sagt Jaana. Wir hatten die Lehrerin aus Helsinki im Café am Fähren-Terminal getroffen. «Die einen gehen in Stockholm ins Museum oder besuchen Bekannte, die andern lassen sich auf dem Schiff volllaufen.»

Auf ein Exemplar letzterer Kategorie stossen wir auf Deck 12. Wir wollen von hier oben die jetzt im goldenen Abendlicht ruhende Schärenlandschaft
geniessen. Eine ältere Frau liegt mehr als sie sitzt in einem Stuhl. Mit einer Hand umklammert sie eine Büchse Lapin-Kulta-Bier. Die andere Hand hält einen Einkaufswagen, in dem Kartons mit finnischem Bier aufgetürmt sind.

Eine Arche Noah für Alkoholiker ist die «Silja Serenade» aber nicht. Die wahren Kampftrinker, wird uns von Passagieren und Crewmitgliedern versichert, reisen mit der Konkurrenz von der Viking Line. Die ist billiger, denn auf der «Ketch-up-Line» ist man nicht gezwungen, eine Kabine zu mieten. Ein Sessel tuts auch.

Shoppen, Tanzen und dann ab in die Bar zum Schlummertrunk

Erst im zweiten Anlauf gelingt es uns, einen Platz im Buffet Serenade, einem er sechs Restaurants an Bord der «Serenade», zu ergattern. Die Passagiere machen sich über Berge von Lachs, Hering und Dorsch her, knacken Muscheln und spülen das maritime Mahl mit enormen Mengen von Bier und Wein vom Fass hinunter.

Der Bummel durch die 143 Meter lange Shopping-Arkade kühlt das Gemüt nach der Schlacht am Buffet wieder ab. Kosmetika, Parfüms, CDs, Kinderklamotten, Lederwaren und Souvenirs werden hier in Massen abgesetzt. Die in Finnmark und schwedischen Kronen angeschriebenen Preise sind aber für unsere Verhältnisse nicht attraktiv.

Im Atlantis Palace wird eine beliebte finnischen Sitte gepflegt: Im Schummerlicht drehen sich Paare mittleren Alters zu den Klängen einer Liveband.
Finnen tanzen überall - solange sie sich auf den Beinen halten können.

Draussen dämmerts mittlerweile. Zeit für einen Schlummertrunk. Unversehens platzen wir in der Bon Vivant Bar in einen Blitzlehrgang zum Thema Portwein: Der kahlköpfige finnische Barkeeper macht ein gut gekleidetes schwedisches Paar mit den Raffinessen des Portweins vertraut und lädt uns gleich zur Degustation ein. In zehn Minuten erfahren wir alles, was wir schon immer wissen wollten, über Dow's der Jahrgänge 77, 86 und 88. Während der Barmann den Bestellblock zückt und mit den Schweden im schwimmenden Weinlager verschwindet, suchen wir die Kabinen auf.

Als die «Serenade» um Mitternacht in Mariehamn auf den Aland-Inseln anlegt, schlummern wir tief. Verpasst haben wir nichts. Vermutlich ist kein einziger Passagier von Bord gegangen. Denn der Halt auf Aland ist taktischer Natur. Damit umgeht die Reederei die Restriktionen der EU, die Taxfree-Shopping untersagt. Aland gehört zwar zu Finnland, nicht aber zur EU.

Erst eineinhalb Stunden bevor das Schiff am andern Morgen sein Ziel erreicht, belebt sich der schwimmende Shopping-, Fress- und Sauftempel mit
übernächtigten Gestalten. Die spektakuläre Einfahrt ins Hafenbecken Helsinkis erleben wir vorne am Bug. Der Steuermann manövriert den 213 Meter langen Kahn präzise zwischen den Inseln durch, die Helsinkis Fährhafen vom offenen Meer abschirmen.

Die griechische «Superfast VII» ist in nur 22 Stunden in Rostock

Um das Kontrastprogramm zur «Serenade» zu erleben, rattern wir von Helsinki aus erst mal per Bus eineinhalb Stunden durch die Provinz. Im Hafen der Kleinstadt Hanko am Südzipfel Finnlands startet die «Superfast VII» dreimal pro Woche zur Reise durch die Ostsee nach Rostock. Das schnittige rot-weisse Schiff verkehrt erst seit Mitte Mai - und hat das Fähren-Business in der Baltischen See revolutioniert.

«Wir brauchen nur 22 Stunden von Finnland bis Rostock», sagt Chef-Steward Charralambos Psarrakis. Zum Vergleich: Die altehrwürdige «Finnjet», die bis anhin als schnellstes Fährschiff der Welt galt, benötigt für die Strecke Helsinki-Rostock bis zu 25 Stunden, den Halt in Tallin miteingerechnet.

Von Bouzouki-Käengen und Sirtaki-Tänzern bleiben die Passagiere an Bord der «Superfast VII» zwar verschont, obwohl wir uns unzweifelhaft auf
griechischem Terrain befinden. Der Kahn, der pro Stunde 50,2 Kilometer zurücklegt, gehört zur Flotte von Pericles S. Panagopoulos. Der schwerreiche griechische Reeder beherrscht mit sechs Superfast-Schiffen das Fährengeschäft auf der Italien-Griechenland-Route.

Jetzt erobert Panagopoulos Nordeuropa: Nächstens nimmt die «Superfast VIII» den Betrieb auf der Hanko-Rostock-Linie auf. 2002 sollen Superfast-Fähren auch zwischen Stockholm/Södertälje und Rostock sowie in Grossbritannien verkehren.

Das hellenische Ostseeschiff schmückt sich mit dem Zertifikat «Finnish Ice Class 1A Super», und auch die vielen Griechen in der Mannschaft sind
kältefest. «Die meisten Kollegen», versichert Chef-Steward Psarrakis, «haben auf Kreuzfahrtschiffen in der Nordsee gearbeitet.»

Während die «Superfast VII» zur Reise in den Süden startet, lassen wir uns im gediegenen Schiffsrestaurant Lammkoteletts, Gemüse und Bratkartoffeln schmecken und trinken einen kräftigen Montepulciano Della Cale. Die griechischen Kellner servieren das erstklassige Mahl mit der Grandezza der Südländer, Mister Psarrakis höchstpersönlich räumt die leeren Teller ab. «Die ist in erster Linie Schiff und Transportmittel und weniger Supermarkt oder Saufmeile. Das wirkt sich wohltuend auf die Ambiance an Bord aus. Die Passagiere ziehen sich zum Lesen und Schwatzen in die vielen Sitznischen zurück. Die Kleinsten toben durchs mit bunten Bällen gefülle Kinderparadies. Und in den beiden Shops hat die Bedienung alle Zeit dieser Welt, Gestelle neu einzuräumen.

Schlichtes skandinavisches Design dominiert im griechischen Schiff: viel Holz, warme Farben, nichts Schrilles oder gar Grosskotziges. Die Disco ist in ein Untergeschoss verbannt; das im Prospekt angekündigte Casino suchen wir vergeblich.

Zum Abschied dröhnt aus den Lautsprechern «Akropolis adieu»

Auf dem Handy-Display blinken zwar immer wieder schwedische, dänische und deutsche Signale, aber Land kommt erst nach 21 Stunden auf See in Sicht: Wald, Strände und Kühltürme von Atomkraftwerken. Kapitän Peter Chakoumatos beordert alle Offiziere auf die mit Computern und Bildschirmen bestückte Brücke. Volle Konzentration ist gefragt, denn vor der Einfahrt in den Rostocker Hafen wimmelt es von Ausflugsschiffen, Segelbooten und kleineren Schweden-Fähren. Chef-Steward Psarrakis geleitet die Passagiere von Bord. Aus dem Lautsprecher dröhnt «Akropolis adieu».

24.6.2001, Sonntagszeitung